Ein umfassender Leitfaden zum deutschen Behindertengleichstellungsgesetz - das grundlegende Bundesgesetz zur Gleichstellung von Menschen mit Behinderungen und zum Verbot von Diskriminierung in der Bundesverwaltung
Das Behindertengleichstellungsgesetz (BGG) ist das umfassende Bundesgesetz Deutschlands zur Begründung von Gleichstellungsrechten für Menschen mit Behinderungen. Verabschiedet am 27. April 2002 und in Kraft getreten am 1. Mai 2002, markierte das BGG einen Paradigmenwechsel in der deutschen Behindertenpolitik von einem rein fürsorglichen Ansatz hin zu einem rechtebasierten Ansatz, der auf den Prinzipien von Gleichstellung, Selbstbestimmung und voller Teilhabe an der Gesellschaft beruht.
Das BGG gilt für die Bundesverwaltung (Bundesverwaltung) und begründet verbindliche Verpflichtungen für Bundesministerien, Behörden und öffentliche Einrichtungen. Es legt fest, dass Menschen mit Behinderungen nicht benachteiligt werden dürfen und verlangt den Abbau von Barrieren, die eine gleichberechtigte Teilhabe an der Gesellschaft verhindern.
Mit etwa 10,4 Millionen Menschen mit anerkannten Behinderungen in Deutschland – rund 13% der Bevölkerung – ist das BGG eines der sozial bedeutsamsten Bundesgesetze. Es betrifft nicht nur Menschen mit dauerhaften Behinderungen, sondern auch Personen mit vorübergehenden Beeinträchtigungen, altersbedingten Einschränkungen und chronischen Erkrankungen.
Das BGG existiert innerhalb eines mehrschichtigen verfassungs- und völkerrechtlichen Rahmens:
Artikel 3 Absatz 3 Satz 2 des deutschen Grundgesetzes wurde 1994 geändert und lautet: „Niemand darf wegen seiner Behinderung benachteiligt werden". Diese Verfassungsbestimmung:
Deutschland ratifizierte am 24. Februar 2009 das Übereinkommen der Vereinten Nationen über die Rechte von Menschen mit Behinderungen (UN-Behindertenrechtskonvention). Die UN-BRK:
Die Änderungen des BGG von 2016 haben das deutsche Recht ausdrücklich an die Anforderungen der UN-BRK angepasst, indem Konzepte wie angemessene Vorkehrungen eingeführt und Teilhaberechte gestärkt wurden.
Das 2006 verabschiedete Allgemeine Gleichbehandlungsgesetz (AGG), Deutschlands Antidiskriminierungsgesetz, verbietet Diskriminierung in Beschäftigung und zivilrechtlichen Rechtsgeschäften aufgrund verschiedener Merkmale einschließlich Behinderung. Das BGG und das AGG ergänzen sich:
Das ursprüngliche BGG begründete Grundprinzipien: Benachteiligungsverbot, Barrierefreiheitsanforderungen für Gebäude und Informationstechnik, Teilhaberechte für Behindertenorganisationen und das Konzept der Zielvereinbarungen (Zielvereinbarungen) als Alternative zur Regulierung.
Das BGGWeiterentwicklungsgesetz (BGG-Weiterentwicklungsgesetz) vom 19. Juli 2016 brachte wesentliche Änderungen:
Umsetzung der EU-Richtlinie zur Barrierefreiheit von Websites (2016/2102) durch Änderungen des BGG:
§ 3 BGG definiert Menschen mit Behinderungen (Menschen mit Behinderungen) umfassend:
„Menschen mit Behinderungen [...] sind Menschen, die körperliche, seelische, geistige oder Sinnesbeeinträchtigungen haben, die sie in Wechselwirkung mit einstellungs- und umweltbedingten Barrieren an der gleichberechtigten Teilhabe an der Gesellschaft mit hoher Wahrscheinlichkeit länger als sechs Monate hindern können."
Diese Definition umfasst Personen, die haben:
Wichtig ist, dass die Definition das soziale Modell von Behinderung übernimmt: Behinderung entsteht aus der Wechselwirkung zwischen individuellen Beeinträchtigungen und Umweltbarrieren. Dies verlagert den Fokus vom „Reparieren" von Individuen auf das Beseitigen gesellschaftlicher Barrieren.
Das BGG gilt für Träger öffentlicher Gewalt des Bundes (Bundesbehörden), definiert in § 1 als:
Private Organisationen, die öffentliche Aufgaben des Bundes wahrnehmen (Beliehene), unterliegen den BGG-Anforderungen bei Ausübung hoheitlicher Befugnisse.
§ 7 BGG begründet das zentrale Benachteiligungsverbot (Benachteiligungsverbot):
„Ein Verstoß gegen das Benachteiligungsverbot liegt vor, wenn Menschen mit und ohne Behinderungen ohne zwingenden Grund unterschiedlich behandelt werden und dadurch Menschen mit Behinderungen in der gleichberechtigten Teilhabe am Leben in der Gesellschaft unmittelbar oder mittelbar beeinträchtigt werden."
Dieses Verbot umfasst sowohl:
§ 7 Absatz 2 BGG, 2016 zur Anpassung an die UN-BRK hinzugefügt, legt fest, dass die Verweigerung angemessener Vorkehrungen Diskriminierung darstellt:
„Eine Benachteiligung liegt auch vor, wenn eine Person, Institution oder Einrichtung die Verwendung von Hilfsmitteln verweigert oder behindert oder eine Begleitperson zurückweist."
Angemessene Vorkehrungen bedeuten notwendige und geeignete Änderungen und Anpassungen, um zu gewährleisten, dass Menschen mit Behinderungen ihre Rechte auf gleichberechtigter Grundlage ausüben können, sofern dies keine unverhältnismäßige oder unzumutbare Belastung (unverhältnismäßige Belastung) darstellt.
Beispiele für angemessene Vorkehrungen umfassen:
§ 4 BGG definiert barrierefreie Gestaltung (barrierefreie Gestaltung):
„Barrierefrei sind bauliche und sonstige Anlagen, Verkehrsmittel, technische Gebrauchsgegenstände, Systeme der Informationsverarbeitung, akustische und visuelle Informationsquellen und Kommunikationseinrichtungen sowie andere gestaltete Lebensbereiche, wenn sie für Menschen mit Behinderungen in der allgemein üblichen Weise, ohne besondere Erschwernis und grundsätzlich ohne fremde Hilfe auffindbar, zugänglich und nutzbar sind."
Barrierefrei bedeutet in der allgemein üblichen Weise, ohne besondere Erschwernis und grundsätzlich ohne fremde Hilfe zugänglich. Dieser hohe Standard verlangt, dass:
§ 8 BGG verlangt, dass Gebäude von Bundesbehörden barrierefrei gestaltet werden. Dies umfasst:
Neue Bundesgebäude und größere Renovierungen müssen barrierefrei nach geltenden technischen Normen gestaltet werden, insbesondere:
Anforderungen umfassen barrierefreie Eingänge, Aufzüge, Türen ausreichender Breite, barrierefreie Toiletten, angemessene Beschilderung, akustische und visuelle Alarmsysteme und Leitsysteme.
§ 8 Absatz 2 verlangt, dass bestehende Bundesgebäude „soweit möglich" (soweit möglich) barrierefrei gemacht werden. Obwohl anerkannt wird, dass vollständige Barrierefreiheit nicht immer sofort erreichbar ist, müssen Bundesbehörden:
§ 12a BGG, eingefügt 2018, begründet umfassende Anforderungen für digitale Barrierefreiheit:
Umsetzungsdetails sind in der BITV 2.0 spezifiziert, die durch § 12 BGG autorisiert ist.
Jede Bundeswebsite und mobile Anwendung muss eine detaillierte Barrierefreiheitserklärung veröffentlichen, die den Konformitätsstatus, bekannte Probleme, einen Feedbackmechanismus und Informationen zum Durchsetzungsverfahren umfasst.
Die Überwachungsstelle des Bundes für Barrierefreiheit von Informationstechnik führt regelmäßige Überwachungen durch, veröffentlicht Berichte und unterstützt Bundesbehörden bei der Erreichung digitaler Barrierefreiheit.
Gehörlose und schwerhörige Personen haben das Recht, bei der Interaktion mit Bundesbehörden Deutsche Gebärdensprache (Deutsche Gebärdensprache - DGS), Internationale Gebärdensprache und andere Kommunikationshilfen zu verwenden. Bundesbehörden müssen:
§ 11 Absatz 2 verlangt, dass Bundesbehörden Informationen in Leichter Sprache für Personen mit kognitiven oder Lernbehinderungen bereitstellen. Leichte Sprache verwendet:
Bundeswebsites müssen Zusammenfassungen wichtiger Informationen in Leichter Sprache bereitstellen.
Über Leichte Sprache hinaus ermutigt das BGG zur Verwendung von Einfacher Sprache (Einfache Sprache) für die allgemeine Kommunikation. Einfache Sprache ist weniger vereinfacht als Leichte Sprache, legt aber dennoch Wert auf Klarheit, vermeidet bürokratischen Jargon, komplexe Satzstrukturen und Fachterminologie, wo einfachere Alternativen existieren.
Das BGG erkennt an, dass Menschen mit Behinderungen und ihre Vertretungsorganisationen in Entscheidungen, die sie betreffen, sinnvoll einbezogen werden müssen, gemäß dem Prinzip „Nichts über uns ohne uns".
§ 14 BGG gewährt anerkannten Behindertenorganisationen (anerkannte Verbände) Teilhaberechte in Gesetzgebungs- und Regulierungsverfahren, die Menschen mit Behinderungen betreffen. Organisationen, die die gesetzlichen Kriterien erfüllen, können:
Die Behindertenbeauftragte der Bundesregierung, eingerichtet durch eine verwandte Bestimmung, dient als Fürsprecherin für Behindertenrechte auf Bundesebene, fördert die Umsetzung des BGG, berät Ministerien und vertritt Behindertenperspektiven in der Bundespolitik.
Jedes Bundesministerium ernennt eine Behindertenbeauftragte (Behindertenbeauftragte), die für die Förderung von Barrierefreiheit und Behindertengleichstellung im Zuständigkeitsbereich dieses Ministeriums verantwortlich ist.
Die durch die BGG-Änderungen von 2016 eingerichtete Bundesfachstelle Barrierefreiheit (Bundesfachstelle für Barrierefreiheit) bietet:
§ 16 BGG richtet eine Schlichtungsstelle (Schlichtungsstelle) ein, die eine kostenlose, informelle Streitbeilegung für Diskriminierungsansprüche wegen Behinderung gegen Bundesbehörden bietet.
Schlichtung ist freiwillig, vertraulich und schließt spätere Rechtsschritte nicht aus. Beschwerdeführern werden keine Kosten berechnet.
Menschen mit Behinderungen können Verwaltungsakte des Bundes durch Verwaltungsgerichtsverfahren (Verwaltungsgerichtsverfahren) anfechten, wenn:
Verwaltungsgerichte (Verwaltungsgerichte) können Bundesbehörden zu spezifischen Maßnahmen verpflichten, Diskriminierung einstellen oder Vorkehrungen bereitstellen.
§ 15 BGG gewährt anerkannten Behindertenorganisationen das Recht, Klagen im eigenen Namen (Verbandsklagerecht) zu erheben, wenn:
Dieser Mechanismus für Sammelklagen ermöglicht es Behindertenorganisationen, systemische Barrieren auch ohne individuelle Kläger anzufechten.
Als letztes Mittel können Menschen mit Behinderungen Verfassungsbeschwerden (Verfassungsbeschwerden) beim Bundesverfassungsgericht (Bundesverfassungsgericht) einreichen und Verstöße gegen Artikel 3 Absatz 3 Satz 2 des Grundgesetzes (Verbot der Diskriminierung wegen Behinderung) geltend machen.
Obwohl das BGG keine direkten Bußgelder gegen Bundesbehörden vorsieht (sie können sich nicht selbst bestrafen), kann Nichteinhaltung führen zu:
Gilt das BGG für private Unternehmen?
Nein, das BGG gilt nur für Bundesbehörden. Private Unternehmen unterliegen anderen Gesetzen: dem AGG (Allgemeines Gleichbehandlungsgesetz) für Beschäftigung und zivilrechtliche Rechtsgeschäfte und dem BFSG (Barrierefreiheitsstärkungsgesetz) für Produkte und Dienstleistungen. Private Rechtsträger, die öffentliche Aufgaben des Bundes wahrnehmen, unterliegen jedoch dem BGG bei Ausübung dieser Funktionen.
Gilt das BGG für Landes- und Kommunalverwaltungen?
Nein, das BGG gilt nur für Bundesbehörden (Bundes-). Jedes Bundesland hat ein eigenes Behindertengleichstellungsgesetz (Landes-BGG) für Landes- und Kommunalverwaltungen. Diese Landesgesetze spiegeln typischerweise die BGG-Struktur und -Prinzipien wider.
Muss ich meine Behinderung offiziell registrieren, um BGG-Rechte geltend zu machen?
Nein. BGG-Rechte gelten für alle, die die funktionale Definition von Behinderung in § 3 erfüllen, unabhängig davon, ob sie ihre Behinderung formal registriert haben oder einen Schwerbehindertenausweis besitzen. Für bestimmte Leistungen nach anderen Gesetzen (wie Arbeitsschutz nach SGB IX) kann jedoch eine formale Anerkennung erforderlich sein.
Was ist der Unterschied zwischen BGG und der UN-BRK?
Die UN-BRK ist ein internationales Menschenrechtsabkommen, das Deutschland 2009 ratifiziert hat und bindende internationale Verpflichtungen schafft. Das BGG ist deutsches Bundesrecht zur Umsetzung der UN-BRK-Prinzipien für die Bundesverwaltung. Die UN-BRK hat einen breiteren Anwendungsbereich (alle Lebensbereiche), während das BGG sich auf Bundesbehörden konzentriert. Beide sind unmittelbar anwendbares deutsches Recht.
Was sind angemessene Vorkehrungen und wann müssen sie bereitgestellt werden?
Angemessene Vorkehrungen (angemessene Vorkehrungen) bedeuten notwendige Änderungen und Anpassungen, um zu gewährleisten, dass Menschen mit Behinderungen ihre Rechte auf gleichberechtigter Grundlage ausüben können. Bundesbehörden müssen angemessene Vorkehrungen bereitstellen, sofern dies keine unverhältnismäßige oder unzumutbare Belastung darstellt. Beispiele umfassen die Bereitstellung von Dokumenten in alternativen Formaten, das Zulassen von Hilfstechnologien oder die Anpassung von Verfahren. Die Verweigerung angemessener Vorkehrungen ohne Begründung stellt Diskriminierung nach § 7 Absatz 2 BGG dar.
Kann ich bei Kontakt mit Bundesbehörden Gebärdensprache verwenden?
Ja. § 11 BGG gewährt gehörlosen und schwerhörigen Personen das Recht, Deutsche Gebärdensprache (DGS) oder Internationale Gebärdensprache zu verwenden. Bundesbehörden müssen auf Anfrage qualifizierte Gebärdensprachdolmetscher bereitstellen, auf Kosten der Behörde. Sie sollten die Behörde wenn möglich im Voraus benachrichtigen, um Zeit für die Organisation eines Dolmetschers zu ermöglichen.
Kann ich meinen Assistenzhund in Bundesgebäude mitbringen?
Ja. Die Verweigerung des Zugangs für Assistenztiere (Assistenzhunde) stellt Diskriminierung nach § 7 Absatz 2 BGG dar. Dies gilt für Blindenführhunde, Signalhunde für gehörlose Personen, Servicehunde für Personen mit Mobilitätseinschränkungen und psychiatrische Servicehunde. Die einzigen Ausnahmen sind Bereiche, in denen Tiere aus zwingenden Hygiene- oder Sicherheitsgründen verboten sind (z.B. sterile medizinische Umgebungen, Lebensmittelzubereitungsbereiche).
Müssen Bundeswebsites mit meinem Bildschirmlesegerät funktionieren?
Ja. § 12a BGG verlangt, dass Bundeswebsites den WCAG 2.1 Level AA-Standards entsprechen (detailliert in BITV 2.0), was vollständige Bildschirmlesegerät-Kompatibilität umfasst. Wenn Sie auf Barrierefreiheitshindernisse auf einer Bundeswebsite stoßen, können Sie diese über den Feedbackmechanismus in der Barrierefreiheitserklärung der Website melden, die Überwachungsstelle des Bundes kontaktieren oder das Schlichtungsverfahren einleiten.
Wie kann ich eine Beschwerde nach dem BGG einreichen?
Versuchen Sie zunächst, das Problem direkt mit der Bundesbehörde zu lösen. Falls erfolglos, können Sie das Schlichtungsverfahren (Schlichtungsverfahren) einleiten, indem Sie eine schriftliche Beschwerde bei der Schlichtungsstelle BGG einreichen. Das Verfahren ist kostenlos, informell und erfordert keine anwaltliche Vertretung. Falls die Schlichtung das Problem nicht löst, können Sie Rechtsschritte durch Verwaltungsgerichte einleiten.
Wie lange dauert das Schlichtungsverfahren?
Die Schlichtungsstelle strebt einen Abschluss der Schlichtung innerhalb von drei Monaten an. Komplexe Fälle können länger dauern. Das Verfahren ist vertraulich und freiwillig. Selbst wenn die Schlichtung erfolglos ist, behalten Sie alle Rechtsmittel.
Können Behindertenorganisationen in meinem Namen klagen?
Anerkannte Behindertenorganisationen können nach § 15 BGG Klagen im eigenen Namen erheben, wenn Probleme viele Menschen mit Behinderungen betreffen oder systemische Barrieren beinhalten. Sie müssen nicht persönlich als Kläger genannt werden. Organisationen können Ihren Einzelfall auch durch Informationen, Beratung und manchmal anwaltliche Vertretung unterstützen.
Was passiert, wenn eine Bundesbehörde einer gerichtlichen Anordnung nicht nachkommt?
Bundesbehörden sind gesetzlich verpflichtet, rechtskräftigen gerichtlichen Anordnungen nachzukommen. Falls eine Behörde nicht nachkommt, können zusätzliche Durchsetzungsmechanismen in Anspruch genommen werden, einschließlich Dienstaufsicht (Dienstaufsicht), Verfahren wegen Missachtung und letztlich exekutive Durchsetzung. Anhaltende Nichteinhaltung kann zu disziplinarischen Maßnahmen gegen verantwortliche Beamte führen.