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Europäischer Standard

EN 301 549

Ein umfassender Leitfaden zum Verständnis und zur Umsetzung des Europäischen IKT-Barrierefreiheitsstandards - die harmonisierte technische Spezifikation für Barrierefreiheitsanforderungen in der gesamten EU

Die Grundlage des EU-Barrierefreiheitsrechts
EN 301 549 ist der harmonisierte europäische Standard, der technische Barrierefreiheitsanforderungen für IKT-Produkte und -Dienstleistungen (Informations- und Kommunikationstechnologie) definiert. Er dient als technische Spezifikation, auf die sowohl der European Accessibility Act als auch die Web Accessibility Directive verweisen, und bildet damit den Grundstein der EU-Barrierefreiheits-Compliance.

Einführung in EN 301 549

Was ist EN 301 549?

EN 301 549, offiziell betitelt "Barrierefreiheitsanforderungen für IKT-Produkte und -Dienstleistungen", ist ein europäischer Standard, der vom European Telecommunications Standards Institute (ETSI) veröffentlicht wurde. Erstmals 2014 veröffentlicht und seitdem regelmäßig aktualisiert (aktuelle Version 3.2.1 wurde im August 2021 harmonisiert), bietet dieser Standard umfassende technische Spezifikationen, um Informations- und Kommunikationstechnologie für Menschen mit Behinderungen zugänglich zu machen.

Der Standard ist einzigartig in seinem Umfang und Ehrgeiz. Im Gegensatz zu vielen Barrierefreiheitsstandards, die sich eng auf bestimmte Technologien konzentrieren (wie Websites oder mobile Apps), deckt EN 301 549 das gesamte Spektrum an IKT-Produkten und -Dienstleistungen ab, einschließlich:

  • Webinhalte und -anwendungen
  • Mobile Anwendungen (nativ und hybrid)
  • Nicht-Web-Software (Desktop-Anwendungen, Betriebssysteme)
  • Hardwaregeräte (Computer, Smartphones, Geldautomaten, Kioske)
  • Dokumentation und Support-Services
  • Telekommunikation und bidirektionale Sprachkommunikation
  • Videotechnologien und Player-Fähigkeiten

Durch die Bereitstellung eines einzigen, einheitlichen Satzes von Anforderungen, die auf all diese Bereiche anwendbar sind, beseitigt EN 301 549 die Notwendigkeit für Organisationen, mehrere, möglicherweise widersprüchliche Standards zu navigieren. Diese Harmonisierung ist besonders wertvoll für Unternehmen und öffentliche Einrichtungen, die in mehreren EU-Mitgliedstaaten tätig sind.

Geschichte und Entwicklung

EN 301 549 hat sich seit seiner Entstehung erheblich entwickelt:

  • V1.1.1 (2014): Erstversion basierend auf WCAG 2.0 Level AA
  • V2.1.2 (2018): Aktualisiert, um WCAG 2.1 einzubeziehen, mit 17 neuen Erfolgskriterien, die sich auf mobile Barrierefreiheit, Sehbehinderung und kognitive Behinderungen konzentrieren
  • V3.1.1 (2019): Verbesserte Dokumentenbarrierefreiheitsanforderungen und Klärung verschiedener Bestimmungen
  • V3.2.1 (2021): Aktuelle harmonisierte Version mit weiteren Verfeinerungen und Klärungen

Der Standard wird vom Technical Committee Human Factors (TC HF) von ETSI gepflegt und regelmäßig überprüft, um sicherzustellen, dass er mit technologischen Entwicklungen und internationalen Best Practices übereinstimmt. Zukünftige Versionen werden wahrscheinlich WCAG 2.2 und schließlich WCAG 3.0 (derzeit in Entwicklung) einbeziehen, wenn diese Standards ausgereift sind.

Standardstruktur und Organisation

Kapitelübersicht

EN 301 549 ist in 14 Hauptkapitel organisiert, die jeweils verschiedene Aspekte der IKT-Barrierefreiheit behandeln. Das Verständnis dieser Struktur hilft Ihnen, den Standard zu navigieren und zu identifizieren, welche Anforderungen auf Ihre spezifischen Produkte oder Dienstleistungen zutreffen:

Kapitel 1-3: Grundlagen

  • Kapitel 1 (Geltungsbereich): Definiert, was der Standard abdeckt und seine Anwendbarkeit
  • Kapitel 2 (Referenzen): Listet normative Verweise auf andere Standards auf
  • Kapitel 3 (Definitionen): Bietet präzise Definitionen von Begriffen, die im gesamten Standard verwendet werden

Kapitel 4: Funktionale Leistungsaussagen

Dieses entscheidende Kapitel beschreibt was Benutzer mit Behinderungen mit IKT tun können müssen, unabhängig von einer spezifischen Technologie. Dies sind hochrangige, ergebnisorientierte Anforderungen, die Folgendes abdecken:

  • Nutzung ohne Sehen (4.2.1)
  • Nutzung mit eingeschränktem Sehen (4.2.2)
  • Nutzung ohne Farbwahrnehmung (4.2.3)
  • Nutzung ohne Hören (4.2.4)
  • Nutzung mit eingeschränktem Hören (4.2.5)
  • Nutzung ohne oder mit eingeschränkter Sprachfähigkeit (4.2.6)
  • Nutzung mit eingeschränkter Manipulation oder Kraft (4.2.7)
  • Nutzung mit eingeschränkter Reichweite (4.2.8)
  • Minimierung von fotosensitiven Anfallsauslösern (4.2.9)
  • Nutzung mit eingeschränkter Kognition, Sprache oder Lernen (4.2.10)
  • Privatsphäre (4.2.11)

Diese funktionalen Leistungsaussagen dienen als Rückfallebene – wenn spezifische technische Anforderungen für eine neuartige Technologie nicht existieren, können Sie die Konformität anhand dieser funktionalen Ergebnisse bewerten.

Kapitel 5: Allgemeine Anforderungen

Anforderungen, die für alle IKT gelten, unabhängig vom spezifischen Technologietyp:

  • Geschlossene Funktionalität (5.1): Anforderungen für IKT mit eingeschränktem Zugang zu Hilfstechnologien (wie Geldautomaten oder Kioske)
  • Biometrie (5.3): Sicherstellung, dass biometrische Authentifizierung nicht auf einem einzelnen biologischen Merkmal beruht
  • Bewahrung von Barrierefreiheitsinformationen (5.4): Aufrechterhaltung von Barrierefreiheitsdaten während Konvertierung oder Übertragung
  • Bedienbare Teile (5.5-5.7): Physische Steuerungen müssen wahrnehmbar, identifizierbar und nutzbar sein

Kapitel 6: IKT mit bidirektionaler Sprachkommunikation

Anforderungen für Telekommunikationsdienste, VoIP, Videokonferenzen und ähnliche Technologien. Deckt Audioqualität, Echtzeit-Text, Videokommunikation für Gebärdensprachbenutzer und mehr ab.

Kapitel 7: IKT mit Videofunktionen

Anforderungen für Media-Player, Videokonferenzsysteme und Videoinhalte. Beinhaltet Untertitelanzeige, Audiodeskriptions-Wiedergabe, Gebärdensprachpräsentation und Benutzersteuerung.

Kapitel 8: Hardware

Physische Barrierefreiheitsanforderungen für Geräte, die Anschlüsse, mechanische Steuerungen, Tasten und Bedienelemente, taktile Anzeige, visuellen Kontrast, visuelle Anzeige von Audio, Anschluss von Hilfstechnologien und mehr abdecken.

Kapitel 9-11: Software und Inhalte

  • Kapitel 9 (Web): WCAG 2.1 Level A und AA Erfolgskriterien für Webinhalte
  • Kapitel 10 (Nicht-Web-Dokumente): WCAG 2.1 angepasst für Dokumente wie PDFs, Word-Dateien usw.
  • Kapitel 11 (Software): Barrierefreiheitsanforderungen für Nicht-Web-Software einschließlich Desktop-Anwendungen, mobile Apps und Betriebssysteme. Beinhaltet Plattform-Barrierefreiheitsdienste, Tastaturzugriff, Fokus und Tracking, Benutzerpräferenzen und vieles mehr

Kapitel 12: Dokumentation und Support-Services

Anforderungen, die sicherstellen, dass Produktdokumentation und Kundensupport barrierefrei sind. Dokumentation muss in barrierefreien Formaten verfügbar sein, und Support-Services müssen verschiedene Kommunikationsbedürfnisse berücksichtigen.

Kapitel 13: Relay- und Notfalldienste

Anforderungen für Relay-Services (die es gehörlosen oder schwerhörigen Menschen ermöglichen, per Telefon zu kommunizieren) und Zugang zu Notfalldiensten.

Anhänge

Der Standard enthält informative Anhänge, die zusätzliche Anleitungen bieten, einschließlich Tabellen, die Anforderungen an funktionale Leistungsaussagen zuordnen, und Anleitungen zur Bestimmung der Anwendbarkeit.

Webinhaltsanforderungen (Kapitel 9)

WCAG 2.1 Integration

Wie erwähnt, integriert Kapitel 9 von EN 301 549 die WCAG 2.1 Level A und Level AA Erfolgskriterien wörtlich. Dieses Kapitel gilt für Webseiten, einschließlich:

  • Öffentliche Websites
  • Webanwendungen (einschließlich Single-Page-Anwendungen)
  • Intranets und Extranets
  • Progressive Web Apps (PWAs)
  • Webbasierte Komponenten, die in andere Kontexte eingebettet sind

Die Anforderungen sind nach den vier Prinzipien von WCAG organisiert – Wahrnehmbar, Bedienbar, Verständlich und Robust (POUR). Da diese identisch mit WCAG 2.1 Level AA sind, gilt jede Ressource, die die WCAG 2.1-Konformität erklärt, gleichermaßen für die EN 301 549 Kapitel 9-Konformität.

Zusammenfassung der wichtigsten Webanforderungen

Während wir hier nicht alle 50 Level A und AA Erfolgskriterien reproduzieren werden (sie sind in WCAG-Ressourcen ausführlich dokumentiert), gehören zu den am häufigsten verletzten und wirkungsvollsten Anforderungen:

Textalternativen (1.1.1)

Jedes Nicht-Text-Element – Bilder, Symbole, Diagramme, Grafiken, Schaltflächen ohne Text – muss eine Textalternative haben, die gleichwertige Informationen vermittelt. Dies ermöglicht es Screenreader-Benutzern, visuelle Inhalte zu verstehen.

Tastaturzugänglichkeit (2.1.1, 2.1.2)

Alle Funktionen müssen über eine Tastaturschnittstelle bedienbar sein, ohne dass bestimmte Zeitvorgaben für einzelne Tastenanschläge erforderlich sind. Es darf keine Tastaturfallen geben, in denen Benutzer stecken bleiben und nicht wegnavigieren können.

Kontrast (1.4.3, 1.4.11)

Text muss ein Kontrastverhältnis von mindestens 4,5:1 gegenüber seinem Hintergrund haben (3:1 für großen Text). Benutzeroberflächenkomponenten und grafische Objekte müssen mindestens 3:1 Kontrast haben.

Überschriften und Beschriftungen (2.4.6, 1.3.1)

Verwenden Sie geeignetes Überschriften-Markup (H1-H6), um Inhalte logisch zu strukturieren. Überschriften sollten beschreibend und in logischer Reihenfolge sein. Formularbeschriftungen müssen ordnungsgemäß mit ihren Steuerelementen verknüpft sein.

Fokus sichtbar (2.4.7)

Jede tastaturbedienbare Schnittstelle muss einen Betriebsmodus haben, in dem die Tastaturfokusanzeige sichtbar ist. Entfernen Sie niemals Fokusumrisse, ohne eine ebenso sichtbare Alternative bereitzustellen.

Name, Rolle, Wert (4.1.2)

Für alle Benutzeroberflächenkomponenten können Name und Rolle programmatisch bestimmt werden. Zustände, Eigenschaften und Werte können programmatisch gesetzt und an Hilfstechnologien kommuniziert werden (typischerweise unter Verwendung von ARIA).

Nicht-Web-Softwareanforderungen (Kapitel 11)

Was ist Nicht-Web-Software?

Kapitel 11 gilt für Software, die kein Webinhalt ist, einschließlich:

  • Desktop-Anwendungen (Windows-, macOS-, Linux-Anwendungen)
  • Mobile Anwendungen (native iOS- und Android-Apps)
  • Betriebssysteme und Plattformen
  • Software-Entwicklungstools und IDEs
  • Produktivitätssoftware (Office-Suiten, E-Mail-Clients)
  • Hybridanwendungen, die Web- und native Technologien kombinieren
  • Eingebettete Software in Geräten

Plattform-Barrierefreiheitsdienste (11.5)

Einer der wichtigsten Aspekte von Kapitel 11 ist die Anforderung, dass Software Plattform-Barrierefreiheitsdienste ordnungsgemäß nutzt. Dies bedeutet:

Plattform-Barrierefreiheits-APIs

Software muss dokumentierte Plattform-Barrierefreiheitsdienste verwenden, anstatt benutzerdefinierte, inkompatible Lösungen zu implementieren. Zum Beispiel:

  • Windows: Verwenden Sie UI Automation (UIA) oder Microsoft Active Accessibility (MSAA)
  • macOS: Verwenden Sie NSAccessibility-Protokolle
  • iOS: Verwenden Sie UIAccessibility-Framework
  • Android: Verwenden Sie Android Accessibility-Framework
  • Linux: Verwenden Sie AT-SPI (Assistive Technology Service Provider Interface)

Durch die Verwendung dieser Plattformdienste wird Ihre Software automatisch mit Hilfstechnologien wie Screenreadern, Bildschirmlupen, Sprachsteuerung und Switch-Zugriff kompatibel, die Benutzer bereits installiert haben und zu verwenden wissen.

Objektinformationen (11.5.2.5)

Jedes Benutzeroberflächenelement muss programmatisch bestimmbare Informationen über Folgendes offenlegen:

  • Rolle: Welche Art von Element es ist (Schaltfläche, Kontrollkästchen, Überschrift usw.)
  • Name/Beschriftung: Text, der das Element identifiziert
  • Zustand: Aktueller Zustand (aktiviert/deaktiviert, erweitert/reduziert usw.)
  • Wert: Aktueller Inhalt oder Einstellung
  • Beschreibung: Zusätzlicher Hilfetext, falls erforderlich
  • Grenzen: Größe und Position für Hervorhebung/Vergrößerung

Änderung von Fokus und Auswahl (11.5.2.12-13)

Hilfstechnologien müssen in der Lage sein, Fokus programmatisch zu verschieben und Textauswahl zu ändern. Dies ermöglicht es Screenreader-Benutzern, Inhalte effizient zu navigieren und zu bearbeiten.

Weitere wichtige Softwareanforderungen

Tastaturzugriff (11.2.1, 11.2.2)

Genau wie Webinhalte muss alle Softwarefunktionalität über Tastatur verfügbar sein. Dies umfasst benutzerdefinierte Steuerungen, Dialoge, Menüs und alle interaktiven Elemente. Tastaturkürzel sollten auffindbar und anpassbar sein, wo es machbar ist.

Fokusanzeige (11.2.4.7)

Der Tastaturfokus muss deutlich sichtbar sein. Viele native UI-Frameworks bieten Standard-Fokusindikatoren, aber wenn Sie das UI-Erscheinungsbild anpassen, stellen Sie sicher, dass der Fokus offensichtlich bleibt.

Benutzerpräferenzen (11.7)

Software sollte Benutzerpräferenzen respektieren für:

  • Plattform-Anzeigeeinstellungen (hoher Kontrast, großer Text, reduzierte Bewegung)
  • Farbschemata und Themes
  • Audioeinstellungen und Ausgaberouting
  • Alternative Eingabemethoden

Überschreiben Sie keine Barrierefreiheitseinstellungen auf Systemebene, es sei denn, der Benutzer wählt explizit anwendungsspezifische Einstellungen.

Authoring-Tools (11.8)

Wenn Ihre Software ein Authoring-Tool ist – etwas, das Benutzer zum Erstellen von Inhalten verwenden (Content-Management-Systeme, Dokumenteditoren, Website-Builder usw.) – gelten zusätzliche Anforderungen:

  • Das Tool muss es Autoren ermöglichen, barrierefreie Inhalte zu erstellen
  • Die Erstellung barrierefreier Inhalte muss genauso einfach sein wie die Erstellung unzugänglicher Inhalte
  • Das Tool sollte Autoren auffordern, Barrierefreiheitsinformationen hinzuzufügen (wie Alt-Text)
  • Das Tool sollte Funktionen zur Überprüfung der Barrierefreiheit bieten
  • Vorlagen und Standardeinstellungen sollten barrierefrei sein

Hardwareanforderungen (Kapitel 8)

Anwendbare Hardware

Kapitel 8-Anforderungen gelten für physische IKT-Geräte mit benutzerseitigen Hardware-Steuerungen und -Funktionen, einschließlich:

  • Computer, Laptops und Tablets
  • Smartphones und mobile Geräte
  • Geldautomaten und Zahlungsterminals
  • Ticketing- und Check-in-Kioske
  • Informationsterminals
  • Point-of-Sale-Systeme
  • Fotokopierer und Multifunktionsdrucker
  • Spielekonsolen und Controller

Wichtigste Hardwareanforderungen

Stationäre IKT (8.3.2)

Für feste Installationen wie Geldautomaten und Kioske:

  • Vorwärtsreichweite: Bedienbare Teile müssen innerhalb von 1220 mm (48 Zoll) vom Boden für sitzende Benutzer sein
  • Seitenreichweite: Wo Seitenannäherung möglich ist, bedienbare Teile innerhalb von 1220 mm vom Boden
  • Freier Bodenraum: Mindestens 760 mm x 1220 mm (30" x 48"), um Rollstühle aufzunehmen
  • Display-Sichtbarkeit: Bildschirm muss von sitzender Position aus einsehbar sein

Mechanisch bedienbare Teile (8.3.3-8.3.6)

  • Taktile Unterscheidbarkeit (8.3.3.1): Steuerungen müssen taktil unterscheidbar sein, ohne sie zu aktivieren. Benutzer sollten verschiedene Tasten fühlen und durch Berührung identifizieren können
  • Betätigungskraft (8.3.3.2): Steuerungen sollten keine übermäßige Kraft erfordern (≤ 22,2 Newton)
  • Tastenwiederholung (8.3.4): Wenn Tasten beim Halten wiederholt werden, muss es eine einstellbare Verzögerung vor Beginn der Wiederholung geben
  • Visueller Status (8.3.5): Steuerungsstatus muss visuell angezeigt oder programmatisch bestimmbar sein
  • Visueller Kontrast (8.3.6): Visuell dargestellter Status muss ausreichenden Kontrast haben (3:1)

Taktile Anzeige des Sprachmodus (8.3.2.6)

Wo Sprachausgabe verfügbar ist, muss es eine taktile Anzeige (wie ein erhabener Punkt oder Symbol) auf mindestens einem Betriebsmodus geben, der Sprachausgabe bereitstellt, damit blinde Benutzer Audioausgabemodi durch Berührung finden können.

Audioausgabe (8.2)

Für Geräte mit Audioausgabe:

  • Lautstärkeregelung muss verfügbar sein (8.2.1.1)
  • Inkrementelle Lautstärkeregelung (8.2.1.2) zur Feinabstimmung
  • Audiobuchse für privates Hören (8.2.2.1)
  • Unterstützung für Hörhilfen über magnetische Kopplung oder andere drahtlose Technologie (8.2.2.2)

Anschluss von Hilfstechnologien (8.4)

Hardware muss den Anschluss von Hilfstechnologien ermöglichen (alternative Tastaturen, Zeigegeräte, Schalter usw.), entweder direkt oder über die Plattform. Standard-Anschlusspunkte sollten nicht durch das Design des Geräts blockiert werden.

Nicht-Web-Dokumentenanforderungen (Kapitel 10)

Was sind Nicht-Web-Dokumente?

Kapitel 10 gilt für Dokumente, die keine Webseiten sind, aber über Software oder Websites bereitgestellt werden. Dies umfasst:

  • PDF-Dokumente
  • Microsoft Office-Dokumente (Word, Excel, PowerPoint)
  • OpenDocument Format-Dateien (ODF)
  • EPUB-E-Books
  • Hilfedateien und Dokumentation
  • Formulare und ausfüllbare PDFs

Kapitel 10 passt WCAG 2.1 Level A und AA Erfolgskriterien für den Dokumentenkontext an. Während Webseiten von Natur aus dynamisch und interaktiv sind, sind Dokumente oft statischer, sodass einige Anforderungen entsprechend angepasst werden.

Wichtigste Dokumentenanforderungen

Dokumentstruktur und Semantik

Dokumente müssen geeignetes strukturelles Markup verwenden:

  • Überschriften: Verwenden Sie Überschriftenstile (Überschrift 1, Überschrift 2 usw.), nicht nur großen Fetttext
  • Listen: Verwenden Sie geeignete Listenformatierung für Aufzählungs- und nummerierte Listen
  • Tabellen: Markieren Sie Tabellenkopfzeilen und -struktur ordnungsgemäß
  • Lesereihenfolge: Stellen Sie sicher, dass Inhalte in logischer Lesereihenfolge getaggt sind
  • Sprache: Identifizieren Sie die Dokumentsprache und alle Sprachwechsel

Alternativtext

Alle Bilder, Diagramme, Grafiken und Nicht-Text-Elemente müssen Textalternativen haben, die ihren Inhalt und Zweck beschreiben. Dekorative Bilder sollten als solche markiert werden.

Farbe und Kontrast

Text muss minimale Kontrastverhältnisse erfüllen (4,5:1 für normalen Text). Informationen sollten nicht allein durch Farbe vermittelt werden – verwenden Sie Textbeschriftungen, Muster oder andere Indikatoren zusätzlich zur Farbe.

Formulare

Ausfüllbare Formulare (wie PDF-Formulare) müssen haben:

  • Geeignete Feldbeschriftungen, die mit Formularfeldern verknüpft sind
  • Tab-Reihenfolge, die der visuellen Reihenfolge entspricht
  • Klare Anweisungen und Pflichtfeldindikatoren
  • Barrierefreie Fehleridentifikation und Vorschläge

PDF-spezifische Überlegungen

PDFs sind das häufigste Nicht-Web-Dokumentformat. Um PDFs barrierefrei zu machen:

  • Erstellen Sie aus barrierefreien Quelldokumenten (Word, InDesign) anstatt zu scannen
  • Verwenden Sie Adobe Acrobat Pro oder ähnliche Tools, um vorhandenen PDFs Tags hinzuzufügen
  • Legen Sie geeignete Dokumenteigenschaften fest (Titel, Sprache)
  • Stellen Sie sicher, dass Text auswählbar ist (nicht nur gescannte Bilder)
  • Testen Sie mit PDF-Barrierefreiheitsprüfern und Screenreadern
Erwägen Sie HTML anstelle von PDF
PDFs sind von Natur aus weniger barrierefrei als HTML. Sie sind schwieriger mit Screenreadern zu navigieren, passen sich auf kleinen Bildschirmen nicht gut an und haben Kompatibilitätsprobleme mit Hilfstechnologien. Stellen Sie Informationen nach Möglichkeit als barrierefreien HTML-Webinhalt anstelle von PDFs bereit. Wenn Sie PDFs verwenden müssen, bieten Sie auch eine HTML-Alternative an.

Umsetzung von EN 301 549

Bestimmung, welche Anforderungen gelten

EN 301 549 ist umfassend, aber nicht jede Anforderung gilt für jedes Produkt. So bestimmen Sie die Anwendbarkeit:

Schritt 1: Identifizieren Sie Ihren IKT-Typ

  • Ist es Webinhalt? → Kapitel 9 gilt
  • Ist es Nicht-Web-Software? → Kapitel 11 gilt
  • Ist es ein Dokument? → Kapitel 10 gilt
  • Hat es Hardware-Komponenten? → Kapitel 8 gilt
  • Beinhaltet es Sprach-/Videokommunikation? → Kapitel 6-7 gelten

Schritt 2: Identifizieren Sie Funktionen und Fähigkeiten

Schauen Sie sich an, was Ihre IKT tatsächlich tut. Anforderungen gelten nur, wenn die Funktion existiert:

  • Wenn Ihre App kein Video abspielt, gelten Video-Untertitel-Anforderungen nicht
  • Wenn Ihr Gerät keine Audioausgabe hat, gelten audiobezogene Anforderungen nicht
  • Wenn Ihre Software kein Authoring-Tool ist, gelten Authoring-Tool-Anforderungen nicht

Schritt 3: Prüfen Sie auf Ausnahmen

Einige Anforderungen haben spezifische Ausnahmen oder alternative Konformitätspfade. Lesen Sie die "wo IKT..."-Klauseln sorgfältig – sie definieren genau, wann Anforderungen gelten.

Schritt 4: Betrachten Sie funktionale Leistung als Rückfallebene

Wenn Sie eine neuartige Technologie haben, die nicht klar durch spezifische technische Anforderungen abgedeckt ist, bewerten Sie gegen die funktionalen Leistungsaussagen in Kapitel 4. Können Benutzer mit verschiedenen Behinderungen die beschriebenen Ergebnisse erreichen?

Test- und Validierungsansatz

Automatisierte Tests

Verwenden Sie automatisierte Tools, um häufige Probleme zu erkennen:

  • Für Web: Axe, WAVE, Lighthouse, unser Barrierefreiheitschecker
  • Für Dokumente: Adobe Acrobat Barrierefreiheitschecker, PAC (PDF Accessibility Checker)
  • Für Mobil: Accessibility Scanner (Android), Accessibility Inspector (iOS)
  • Für Desktop: Accessibility Insights, verschiedene plattformspezifische Tools

Denken Sie daran: Automatisierte Tools erfassen nur 25-30% der Barrierefreiheitsprobleme. Sie sind ein Ausgangspunkt, nicht die vollständige Antwort.

Manuelle Tests

Wesentliche manuelle Tests umfassen:

  • Tastaturnavigation: Trennen Sie Ihre Maus und verwenden Sie nur die Tastatur, um alle Funktionen zu bedienen
  • Screenreader-Tests: Verwenden Sie NVDA (Windows), JAWS (Windows), VoiceOver (macOS/iOS) oder TalkBack (Android), um Ihre IKT zu navigieren
  • Zoom/Vergrößerung: Testen Sie mit 200% Zoom und mit Bildschirmlupen
  • Farbkontrast: Überprüfen Sie manuell Text-/Hintergrund-Kontrastverhältnisse
  • Visuelle Inspektion: Überprüfen Sie Überschriftenstruktur, Link-Text-Klarheit, Formularbeschriftungen usw.

Benutzertests mit Menschen mit Behinderungen

Der Goldstandard ist das Testen mit echten Benutzern, die Behinderungen haben:

  • Rekrutieren Sie Benutzer mit verschiedenen Behinderungen (blind, sehbehindert, gehörlos, motorische Beeinträchtigungen, kognitive Behinderungen)
  • Beobachten Sie, wie sie Ihre IKT mit ihren Hilfstechnologien verwenden
  • Identifizieren Sie Barrieren und Usability-Probleme, die Sie möglicherweise übersehen haben
  • Integrieren Sie Feedback in Nachbesserungsprioritäten

Konformitätsaussagen und Dokumentation

Wenn Sie Konformität mit EN 301 549 beanspruchen, dokumentieren Sie:

  • Welche Version Sie für die Konformität beanspruchen (z.B. EN 301 549 V3.2.1)
  • Welche Kapitel/Anforderungen auf Ihre IKT zutreffen
  • Konformitätsgrad (vollständig, teilweise, nicht konform)
  • Bekannte Probleme und Pläne zu deren Behebung
  • Testmethodik, die zur Überprüfung der Konformität verwendet wurde

Viele Organisationen verwenden VPAT (Voluntary Product Accessibility Template) oder ACR (Accessibility Conformance Report)-Formate, um EN 301 549-Konformität standardisiert zu dokumentieren.

Häufig gestellte Fragen

Allgemeine Fragen

Ist EN 301 549 gesetzlich vorgeschrieben?

EN 301 549 selbst ist ein freiwilliger Standard. Allerdings verweist die EU-Gesetzgebung (die Web Accessibility Directive und der European Accessibility Act) auf ihn als technische Spezifikation für die Konformität. Wenn Sie diese Gesetze einhalten müssen, müssen Sie effektiv EN 301 549 einhalten.

Kann ich Konformität mit EN 301 549 beanspruchen, wenn ich nur WCAG 2.1 AA erfülle?

Wenn Ihre IKT rein Webinhalt ist und keine anderen Funktionen hat, und Sie WCAG 2.1 Level AA erfüllen, erfüllen Sie im Wesentlichen die Kapitel 9-Anforderungen von EN 301 549. Allerdings erfordert vollständige EN 301 549-Konformität die Erfüllung aller anwendbaren Anforderungen aus allen Kapiteln, nicht nur Kapitel 9.

Muss ich den Standard kaufen, um konform zu sein?

Das vollständige EN 301 549-Dokument ist kostenlos von der ETSI-Website herunterladbar. Im Gegensatz zu einigen Standards müssen Sie es nicht kaufen. Für Webinhalte speziell können Sie auch die kostenlose WCAG 2.1-Dokumentation von W3C referenzieren.

Was ist der Unterschied zwischen EN 301 549 und WCAG?

WCAG konzentriert sich ausschließlich auf Webinhalte. EN 301 549 integriert WCAG 2.1 für Webinhalte (Kapitel 9), deckt aber auch Nicht-Web-Software, Hardware, Dokumente, Telekommunikation, Video und mehr ab. Denken Sie an EN 301 549 als "WCAG plus alles andere".

Welche Version sollte ich verwenden?

Verwenden Sie die neueste harmonisierte Version, derzeit V3.2.1 (2021). Dies ist die Version, auf die sich die EU-Gesetzgebung bezieht. Ältere Versionen sind überholt, obwohl unter älteren Versionen entwickelte Produkte möglicherweise eine gewisse Übergangsanerkennung haben.

Umsetzungsfragen

Unser Produkt ist eine mobile App. Welche Kapitel gelten?

Mobile Apps werden von Kapitel 11 (Software) abgedeckt. Wenn die App spezifische Funktionen wie Videowiedergabe oder Sprachkommunikation hat, können auch relevante Teile der Kapitel 6-7 gelten. Wenn die App In-App-Dokumentation enthält, gilt Kapitel 12. Im Grunde identifizieren Sie, was Ihre App tut, und wenden die relevanten Kapitel an.

Wir stellen ein Hardwaregerät mit eingebetteter Software her. Wie erfüllen wir die Anforderungen?

Sie müssen sowohl Hardware-Anforderungen (Kapitel 8) als auch Software-Anforderungen (Kapitel 11) erfüllen. Zusätzlich gilt Kapitel 5 (allgemeine Anforderungen). Wenn es physische Steuerungen gibt, stellen Sie sicher, dass sie taktile, visuelle und betriebliche Anforderungen erfüllen. Wenn es einen Bildschirm und Software-UI gibt, stellen Sie sicher, dass es gemäß Kapitel 11 barrierefrei ist.

Können wir "teilweise Konformität" beanspruchen?

Ja, Sie können teilweise Konformität beanspruchen und bekannte Probleme dokumentieren. Dies ist besser als fälschlicherweise vollständige Konformität zu beanspruchen oder Nicht-Konformität zu beanspruchen, wenn Sie erhebliche Fortschritte gemacht haben. Seien Sie transparent darüber, was funktioniert und was nicht.

Müssen wir Legacy-Produkte konform machen?

Das hängt von der anwendbaren Gesetzgebung ab. Unter dem EAA haben bestehende Produkte bis zum 28. Juni 2030 Zeit zur Konformität. Unter der Web Accessibility Directive sollten Websites und Apps des öffentlichen Sektors bereits konform sein. Prüfen Sie die spezifischen rechtlichen Anforderungen, die auf Ihre Situation zutreffen.

Wir verwenden Drittanbieter-Komponenten. Sind wir für deren Barrierefreiheit verantwortlich?

Im Allgemeinen ja. Wenn Sie Drittanbieter-Code oder -Komponenten in Ihr Produkt integrieren, sind Sie für die Gesamtbarrierefreiheit Ihres Produkts verantwortlich. Wählen Sie barrierefreie Drittanbieter-Komponenten, und wenn sie nicht barrierefrei sind, beheben Sie sie entweder oder finden Sie Alternativen. Dokumentieren Sie alle Drittanbieter-Einschränkungen in Ihrer Barrierefreiheitserklärung.

Technische Fragen

Wie testen wir Software-Barrierefreiheit (Kapitel 11)?

Verwenden Sie plattformspezifische Barrierefreiheitstest-Tools: Accessibility Insights für Windows, Accessibility Inspector für macOS/iOS, Accessibility Scanner für Android. Testen Sie mit tatsächlichen Hilfstechnologien auf jeder Zielplattform. Überprüfen Sie, dass Ihre UI Informationen ordnungsgemäß über Plattform-Barrierefreiheits-APIs offenlegt.

Was ist, wenn unser benutzerdefiniertes UI-Framework keine Barrierefreiheit unterstützt?

Sie müssen Barrierefreiheitsunterstützung hinzufügen. Dies bedeutet typischerweise die Implementierung der Unterstützung für Plattform-Barrierefreiheits-APIs in Ihrem Framework. Überlegen Sie, ob Sie wirklich ein benutzerdefiniertes Framework benötigen – native oder etablierte Frameworks (React, Flutter, Qt usw.) haben bessere Barrierefreiheitsunterstützung. Wenn Sie benutzerdefinierte UI verwenden müssen, budgetieren Sie Zeit für die Barrierefreiheitsimplementierung; es ist nicht trivial.

Werden Spiele-UIs von EN 301 549 abgedeckt?

Wenn ein Spiel dem EAA oder der Web Accessibility Directive unterliegt (z.B. ein öffentlich finanziertes Bildungsspiel), ja. Mindestens sollten Menüs, Einstellungen und Nicht-Gameplay-UI barrierefrei sein. Gameplay selbst ist komplexer – wenden Sie funktionale Leistungskriterien an und stellen Sie sicher, dass Spieler mit Behinderungen in machbarem Umfang bedeutungsvoll teilnehmen können.

Wie machen wir ein PDF barrierefrei, wenn wir nur ein gescanntes Bild haben?

Führen Sie OCR (Optical Character Recognition) aus, um das Bild in Text zu konvertieren, und taggen Sie dann das resultierende PDF ordnungsgemäß. Für komplexe Layouts oder schlechte Scanqualität müssen Sie möglicherweise OCR-Fehler manuell korrigieren und die Struktur taggen. Alternativ überlegen Sie, ob der Inhalt stattdessen als HTML anstelle von PDF bereitgestellt werden könnte.

Ressourcen und weitere Informationen

Offizielle Ressourcen

Test-Tools und Ressourcen

  • Web: Axe DevTools, WAVE, Lighthouse, unser Barrierefreiheitschecker
  • PDF: Adobe Acrobat Pro Barrierefreiheitschecker, PAC 2021
  • Windows-Software: Accessibility Insights für Windows
  • Mobil: Accessibility Scanner (Android), Accessibility Inspector (Xcode)
  • Screenreader: NVDA (kostenlos, Windows), JAWS (kommerziell, Windows), VoiceOver (integriert, macOS/iOS), TalkBack (integriert, Android)

Nächste Schritte

Beginnen Sie mit dem, was Sie wissen
Wenn Sie an Webinhalten arbeiten, beginnen Sie mit WCAG 2.1 AA-Konformität (EN 301 549 Kapitel 9). Sobald das solide ist, erweitern Sie auf andere Kapitel, soweit sie für Ihre IKT relevant sind. Laden Sie den vollständigen Standard herunter, um Anforderungen zu verstehen, die spezifisch für Ihre Produkte sind. Verwenden Sie unseren Barrierefreiheitschecker, um Web-Probleme zu identifizieren, und führen Sie dann umfassendere Tests für Software-, Hardware- und Dokumentenkomponenten durch. Denken Sie daran: EN 301 549-Konformität ist eine Reise, kein Ziel. Beginnen Sie heute und verbessern Sie kontinuierlich.